Das Projekt Spielfeldschnitte
Pünktlich zur Fußball Europameisterschaft der Männer 2008 konnte man in Filialen einer großen deutschen Bäckereikette ein Kuchenstück erwerben, das sich als Alternative zu Bier in Plastikbechern verstand: ein Sahnetörtchen namens Spielfeldschnitte. Das Projekt Spielfeldschnitte nahm diese Beleidigung, diese Herausforderung und diesen Namen an. Seitdem verstehen wir uns als kreative und humorvolle Begleitung der deutschen Fußballnationalmannschaft und als längst fälligen Beitrag zu einer Frauenfußball-Kultur. Wir bieten nicht nur messerscharfe Analysen zu allen Länderspielen, wir sind die kulturwissenschaftliche Stimme in der Stille des Blätterwaldes, wir sind das Theater, das um den Frauenfußball aufzuführen ist, wir wollen die Welt verändern und schreiben darüber. „My (B)Log has something to tell you.“
(The Log Lady, Twin Peaks)
Montag, 20. Januar 2014
Platzverweis: Because there isn't a single girl or woman in this world that hasn't been intruded upon
(Jenny Schecter, The L-Word)
Von anzüglichen Textnachrichten bis zum Gutschein für eine "erotische Massage mit Happy End". Am 9. Januar 2014 schrieb Lisa-Marie Woods, norwegische Nationalspielerin, die Geschichte einer Teamkollegin auf. Es geht darin um die über Monate hinweg andauernde sexuelle Belästigung durch den Trainer. Am 17. Januar äußerte sich die Betroffene, Nationalspielerin Leni Larsen Kaurin, in einer Norwegischen Zeitung zu den Vorgängen. Über Monate habe der Trainer Øyvind Eide ihr klares "Nein" schlicht ignoriert und immer wieder anzügliche Avancen gemacht. Als ihm irgendwann doch dämmerte, dass es zu keinem intimen Kontakt kommen würde, grenzte er Kaurin systematisch aus und ließ sie auf der Ersatzbank versauern. Auch ihr Vertrag wurde "aus sportlichen Gründen" nicht verlängert. Nach dem Hergang der Ereignisse kann man Stabaeks Sportchef Richard Jansen, an den sich Kaurin wendete, für sein Verhalten (Schweigen) Mittäterschaft vorwerfen.
Gewalt im Sport ist ein Thema, dass noch viel zu wenig beachtet wird. Besonders stark betroffen sind Frauen, denn im Sport ist die Macht stark asymmetrisch verteilt: "Je höher die Hierarchiestufe, um so weniger Frauen sind in den Organen des Sports vertreten. Von daher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Gewaltstrukturen gar nicht wahr- oder zumindest nicht ernstgenommen werden, natürlich sehr hoch. Da kann eine Sportlerin noch lange über eine Belästigung durch ihren Trainer klagen, wenn man sie im Verein auslacht und der Prüderie bezichtigt."
Warum ist Leni Larsen Kaurin nicht sofort, sondern erst jetzt an die Öffentlichkeit getreten? Sie sagt selber, dass sie früher mit anderen hätte reden müssen, früher entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen. "Aber es ist leicht später klug zu sein." Der Blogeintrag ihrer Freundin Lisa-Marie Woods hat ihr vielleicht gezeigt, dass sie Unterstützerinnen hat. Geholfen hat vielleicht auch, dass ihr Gegenüber in dem Interview die ehemalige und vertraute Teamkollegin Ragnhild Gulbrandsen war. Sicher hat ihr auch der Abstand zum Trainer und Verein geholfen jetzt das Wort zu ergreifen, nach dem Ende ihrer Vertragslaufzeit bei Stabaek ist Kaurin ohne Verein. Es passt auch in das Schema von sexueller Belästigung (und darüber hinaus gehende Gewalt), dass die Opfer oft lange Schweigen und sich eher zurückziehen, den Kontakt zu der Person meiden. Insbesondere wenn sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. So auch Kaurin, die vielleicht auch die Aufmerksamkeit des Trainers am Anfang nicht so schlimm fand und erst nach einiger Zeit die Grenzüberschreitung spürte. Aber wo ist die Grenze genau, wenn man schon darüber hinweg ist und wie kann man dann darüber sprechen?
Mit zeitlichem und räumlichen Abstand scheint es hier. Leni Larsen Kaurin ist auch deshalb an die Öffentlichkeit getreten, um dem Thema Aufmerksamkeit zu verleihen. "Weil ich weiß, dass mein Fall kein Einzelfall ist. [...] Auch, weil ich es jüngeren Spielerinnen, die viel mehr zu verlieren haben, leichter machen will, aber auch für die Erhaltung meiner Selbstachtung. [...] Ich hoffe auch auf einen größeren Fokus auf dieses Thema in der Sport- und Berufswelt. Man wird unsicher und verletzbar, wenn eine Person mit Macht im Verhältnis zu deiner eigenen Entwicklung, nicht mit sexuellen Annäherungsversuchen aufhört. [...] Ein Nein muss ein Nein bleiben, auch dem Chef gegenüber, wenn er oder sie über die Grenze gegangen ist, die man eigentlich nicht überschreiten darf."
Trainer Øyvind Eide hat mit scheinheiliger Hilfe des Vereins versucht die Vorfälle zu bagatellisieren. Der erotische Gutschein sei z.B. ein Scherz gewesen. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins ließ folgendes verlauten: "Wir hatten ein sehr gutes Treffen mit Leni und sind die Angelegenheit im Detail durchgegangen. Sie hat bei unserem Treffen bestätigt, dass sexuelle Belästigung ein zu starkes Wort wäre, dass es sich mehr um Belästigung gehandelt habe."
Leni Larsen Kaurin hat diese Aussage dementiert.
Und auch Belästigung ist kein Kavalliersdelikt. Und wo ist da überhaupt die Grenze?
Doch während junge Frauen immer noch in Konflikte des Schweigens und der Ausgrenzung wie vor hundert Jahren stürzen, sind die Machtpositionen scheinbar durch das Konzept des männlichen Schulterschluss´ bis mindestens ins nächste Jahrtausend gesichert.
Dem Trainer jedenfalls spricht der Verein weiterhin vollstes Vertrauen aus.
Die Norwegische Sportprofessorin Jorunn-Sundgot Borgen äußerte sich entsetzt über den Umgang in der Sache. Sie selbst forscht zum Thema Gewalt im Sport: "Über 500 Mädchen wurden interviewt und über 50% von ihnen berichteten über Belästigungen von Autoritätspersonen, es waren Trainer, Leiter, Vorstandsmitglieder, im Großen und Ganzen Leute, die ihre sportliche Entwicklung kontrollieren. Ich habe keinen Zweifel, dass dies ein Problem im Sport ist." Und das ganze mit einer riesengroßen Dunkelziffer, denn viele würden sich nach wie vor nicht trauen die Übergriffe zu verbalisieren. Wie auch, wenn die Reaktionen ähnlich wie von den Funktionären Stabaeks ausfallen? Jorunn-Sundgot Borgen fordert für solche Vorfälle eine Null-Toleranz-Grenze.
Sexuelle Belästigung scheint eines der Themen unserer Zeit: Allgegenwärtig (z. B. in Kirche oder Kindergarten), zugleich weiterhin stumm. Dass beispielsweise im deutschen Erziehungssystem kaum Männer eingestellt werden aus Angst vor sexuellen Übergriffen auf Kinder findet sein pervertiertes Gegenteil an jenen Orten, wo die patriachalen Strukturen der westlichen Hemisphäre noch unverblühmt wachsen. Vielleicht ist der Fußballplatz hier ein besonders gutes Beispiel.
Will man sich im Falle Kaurin nicht entscheiden, wo die Wahrheit liegt, so sollte man die Aufmerksamkeit darauf verschieben, wie wenig über strukturelle Abhängigkeiten, emotionalen Drill, sportliche Anerkennung diskutiert wird, wie wenig sich bisher an der Tatsache geändert hat, dass im Leistungssport fast ausschließlich (alte) Männer den Ton angeben und wie wenig es hilft, sich Hilfe zu suchen, wenn diese darin besteht, eine physisch wie psychische Notsituation von vorne herein als "erfunden" oder "übertrieben" zu bagatellisieren. Wir sind im Zweifel sogar für den Angeklagten - nicht aber für das Opfer?
UPDATE 21. Januar 2014
Stabaek hat gestern offiziell vermeldet, dass man weiter mit Trainer Eide zusammenarbeiten will. Er erhält eine Abmahnung wegen "ungebührlichem Verhalten". Nebenbei wurden im Verein Indizien vernichtet.
Der Ablauf der Ereignisse bestätigt die Allgegenwärtigkeit einer Rape Culture in denen Mechanismen der Verharmlosung und das Verständnis für die Täterperspektive stärker sind, als die Solidarität mit und der Schutz des Opfers.
Dazu auf der Mädchenmannschaft: "Sexuelle Belästigung - so siehts aus." und "Ich will, dass jeder Mensch ohne Angst sein kann."
Bei der Gelegenheit ein Dankeschön an Frauenfußball Schweden, für die Übersetzungen der norwegischen Artikel ins Deutsche.
UPDATE 23. Januar 2014
Auch Lisa-Marie Woods verfolgt die Ereignisse weiterin auf ihrem Blog. Sie ist fassungslos über die Haltung des Vereinsvorstandes. "Still, the club disregards the player and fully supports the coach. The message sent out is: DON'T REPORT!" Sie habe mittlerweile viele Zuschriften von Spielerinnen aller Altersgruppen bekommen, denen ähnliches passiert ist und die sich froh zeigen, dass Kaurin das Wort ergriffen hat. Gleichzeitig wurde sie anscheinend von anderer Seite aufgefordert ihre Berichte über die Angelegenheit einzustellen und in dem Kontext sogar bedroht.
Trotz der Stimmen von Kaurin, Woods, Sundgot-Borgen und aktuell auch des Pressechefs des norwegischen Fußballverbands Stein Graff (und sicher viele viele mehr) liegt über allem immer noch unangetastet der hermetische Zusammenschluss des Funktionärspatriarchat - Zeugnis eines Klimas, in dem es Spielerinnen weiterhin schwer bis unmöglich gemacht wird Übergriffe zu thematisieren.
obatzda
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